Verlust der Artenvielfalt
Chemische Verschmutzung und der Verlust der Artenvielfalt sind untrennbar miteinander verbunden. Sowohl unmittelbar als auch mittelbar wirkt sich chemische Verschmutzung in hohem Mass und nachhaltig auf die Artenvielfalt aus.11 Chemische Verschmutzung verändert die chemische Zusammensetzung von Boden, Wasser und Luft, was wiederum Ökosysteme und die von ihnen abhängigen Lebewesen beeinträchtigt. Gefährliche Schadstoffe wirken sich auch auf die Nahrungskette und die Wechselwirkung von Populationen aus. So können zum Beispiel Pestizide, Insektizide und andere giftige Chemikalien Nützlinge töten, die wichtig für die Befruchtung sind. Die Folge ist eine Reduktion der pflanzlichen Artenvielfalt. Chemikalien können auch den Fortpflanzungserfolg bestimmter Arten beeinträchtigen, was zur Verringerung von Populationen und schliesslich zum Verlust der Artenvielfalt führt, wie sich an den toten Zonen der Weltmeere ablesen lässt.12 Zudem steigert der Verlust der Artenvielfalt die Auswirkungen der chemischen Verschmutzung. Mit dem Abnehmen der Artenvielfalt nimmt auch die Widerstandsfähigkeit von Ökosystemen ab, und sie werden empfindlicher.13 Mit anderen Worten: Je mehr ein Ökosystem an Arten verliert, die zum Abbau der chemischen Verschmutzung beitragen, desto weniger ist es in der Lage, chemische Verschmutzung zu überstehen.
Obwohl Ökologinnen und Ökologen Umweltverschmutzung (einschliesslich chemischer Verschmutzung) als eine der Hauptursachen für den Verlust der Artenvielfalt identifiziert haben, bleibt chemische Verschmutzung allzu oft aus den Debatten ausgeklammert.14 Eine vor Kurzem unter dem Titel «Addressing chemical pollution in biodiversity research» veröffentlichte Studie identifizierte chemische Verschmutzung als globalen Einflussfaktor im Zusammenhang mit dem weltweiten Verlust der Artenvielfalt, und sie befand, dass die Artenvielfaltforschung dieser Tatsache bislang zu wenig Aufmerksamkeit gezollt hat.15 Andere Treiber wie Klimawandel, Veränderung von Boden- und Gewässernutzung, invasive Arten und unmittelbare Ausbeutung natürlicher Ressourcen stehen viel eher im Brennpunkt. Die Studie stellte fest, dass chemische Verschmutzung im Zusammenhang mit Eutrophierung und gelegentlich mit dem Schadstoffgehalt bestimmter Gruppen von Chemikalien, insbesondere Pestiziden, besprochen wird. Eine andere Studie bezog sich auf Arbeiten, die nachwiesen, dass die hohe Umsatzrate bei der Produktion und Vielfalt synthetischer Chemikalien während der vergangenen vier Jahrzehnte zahlreiche andere Ursachen für Veränderungen übertrifft.16
Ökologinnen und Ökologen warnen, dass eine mangelnde Bezugnahme auf die negativen Auswirkungen der chemischen Verschmutzung jedwede Massnahme zum Schutz der Artenvielfalt in erheblichem Umfang untergraben wird. Ein auf science.org veröffentlichter wissenschaftlicher Artikel unterstrich die dringende Notwendigkeit einer planetarischen Systematik bei der Einordnung der Gefahren und Risiken von Chemikalien. Im Idealfall sollte es möglich sein, jene Eigenschaften, die Chemikalien zu einem Problem machen könnten, bereits vor der Freisetzung dieser Chemikalien in der Umwelt – und vor allem bevor ihre Auswirkungen auf globaler Ebene irreversibel werden – zu identifizieren. In Anbetracht der zahlreichen komplexen Wechselwirkungen zwischen Chemikalien und Ökosystemen ist es für die Forschergemeinschaft jedoch nach wie vor eine Herausforderung, eine Wissensbasis anzulegen, die einen derartigen Prüfungsansatz zuliesse. Zudem sind die Auswirkungen der chemischen Verschmutzung häufig subtil sowie kumulativ und machen sich erst im Lauf der Zeit bemerkbar, was eine Quantifizierung zusätzlich erschwert.
Obwohl chemische Verschmutzung eindeutig eine der Hauptursachen für den Verlust der Artenvielfalt ist, tun sich in der Artenvielfaltforschung weiterhin Lücken auf. Weitere interdisziplinäre Forschungsansätze und -kollaborationen sind notwendig, wenn die komplexen Wechselwirkungen zwischen Chemikalien und Ökosystemen sowie die Langzeitwirkung auf diverse Arten und Lebensräume aufgeschlüsselt werden sollen.