Prozessanpassung
Wir könnten es uns einfach machen und das Produktivitätsparadoxon damit erklären, dass wir so viel Zeit damit verbringen, uns an Passwörter zu erinnern, uns gegenseitig Nachrichten zu schicken oder «Selfies» zu machen, dass die Ablenkung den Nutzen der Technologie schnell ausgleicht. Denn tatsächlich sind viele der aktuellen Technologien vielmehr dazu bestimmt, uns zu unterhalten, als uns leistungsfähiger zu machen. Auch wenn darin gewiss ein Funken Wahrheit liegt, dürfte dies wohl kaum der einzige Grund sein. Andernfalls würden Unternehmen schon lange nicht mehr in Technologie investieren.
Eines der überzeugendsten Argumente ist auch gleichzeitig eines der einfachsten. Wenn eine neue Technologie eingeführt wird, dauert es eine gewisse Zeit, bis ihr volles Potenzial erkannt wird und die Prozesse so angepasst werden, dass wir das Beste aus ihr herausholen können. Ab der Erfindung einer Dampfmaschine durch Thomas Newcomen im Jahr 17124, die zur Wasserhebung in Bergwerken verwendet wurde, dauerte es weitere 70 Jahre, bis die Dampfkraft in Verbindung mit innovativer Mechanik für die Erzeugung einer kontinuierlichen Drehbewegung eingesetzt wurde. Für dampfbetriebene Maschinen für die Warenproduktion und Lokomotiven für den Warentransport war diese Erfindung von entscheidender Bedeutung. Mit anderen Worten: Es dauerte 100 Jahre, bis die Technologie zur Erzeugung von Dampfkraft im Rahmen der industriellen Revolution ihre grösste Wirkung auf die Wirtschaft entfaltete.
In der zweiten industriellen Revolution mussten wir erneut feststellen, dass die Nutzung und Wirkung der Elektrizität mehrere Jahrzehnte hinterherhinkten. Während das Verständnis der Elektrizität im frühen 19. Jahrhundert grosse Fortschritte machte, dauerte es bis in die zweite Hälfte des Jahrhunderts, bis Pioniere wie Alexander Graham Bell, Thomas Edison, Nikola Tesla, George Westinghouse und Andere wissenschaftliche Neugierde zum entscheidenden Bestandteil der modernen Fertigung machten. Im Jahr 1880 wurden Glühbirnen erhältlich und Edison hatte Elektrizitätswerke in Manhattan und London errichtet.5 Doch 20 Jahre später waren lediglich 5 % der mechanischen Leistungskraft in amerikanischen Fabriken elektrisch6 und die Dampfkraft war weiterhin die vorherrschende Energiequelle. Die schleppende Übernahme ist nachvollziehbar. Die Dampfkraft wurde in den Fabriken von einer massiven Dampfmaschine in Einwellenbauweise erzeugt, die sich entlang der Fabrik, häufig über Kopf, erstreckte, und alle Maschinen, Pressen und Rohre waren mit dieser zentralen Welle über ein komplexes System aus Antriebsscheiben, Riemen und Zahnrädern verbunden. Sie verliefen zum Teil durch Löcher in der Decke, um die oberen Stockwerke mit Energie zu versorgen, oder führten über zusätzliche Wellen in andere Gebäude oder sogar nach draussen. Maschinen, für die ein stärkeres Drehmoment erforderlich war, mussten näher an der zentralen Welle angebracht sein, und jene mit einem geringeren Energiebedarf konnten in grösserer Entfernung positioniert werden.6
Als Fabrikbesitzer erstmals auf Elektrizität umstiegen, ersetzten sie die Dampfmaschine einfach durch eine elektrische und behielten die alte zentrale Antriebsarchitektur und das damit verbundene Netzwerk aus Riemen und Zahnrädern bei. Folglich warf die Investition lediglich geringe Gewinne des eigentlichen Potentials ab. Den wahren Wert der Elektrizität für die Fertigung erkannte man erst in den 1920er-Jahren, als Unternehmen allmählich verstanden, dass kleine Dampfmaschinen hoffnungslos ineffizient waren, kleine elektrische Motoren hingegen gute Leistung erbrachten und Elektrizität bei Bedarf jederzeit in diese Motoren eingespeist werden konnte. Durch die flexible Anordnung der Produktionslinien konnte man nun einen optimierten Arbeitsablauf erzielen und die erforderliche Nähe zur zentralen Welle verlor an Relevanz.
Auch heute noch kann die Übernahme innovativer Technologien Jahrzehnte dauern, bevor wir alte Gewohnheiten und Prozesse überdenken, eines Besseren belehrt werden und schliesslich das volle Potenzial der Innovation erkennen. Ein aktuelles Beispiel ist das Internet. Eine erste Vernetzung erfolgte in den 1960er-Jahren.7 In den 1980ern stellten das US-Militär und akademische Zentren Internetverbindungen her und ab den 1990ern war die Nutzung stärker geschäftlich ausgerichtet. Doch als im Jahr 1998 Endanwender Musik und Filme kauften8 und online liehen9, vereinten wir diese neue Internettechnologie mit alten Prozessen: Über das Internet bestellte Musik und Filme wurden per Post als optische Datenspeicher (DVDs und CDs) zugesandt. Dieses Konzept muss der jungen «Streaming-Medien»-Generation seltsam erscheinen. Erst in jüngerer Zeit hat sich die zugrunde liegende Infrastruktur aus mobilen High-Speed-Internetverbindungen, mehreren Milliarden vernetzten Geräten, Autos und Sensoren, riesigen Rechenzentren zur Speicherung von Anwendungssoftware, künstlicher Intelligenz, Algorithmen und Daten in einer Weise entwickelt, die es uns ermöglicht, ihr Potenzial auszuschöpfen.
Anhand dieser Beispiele wird deutlich, inwiefern technologische Innovationen häufig eine gewisse Ausreifungszeit benötigen, bis sie Erfolge zeigen und in vollem Umfang in der Wirtschaft angenommen werden. Darüber hinaus wird erkennbar, dass wir uns nun in der Frühphase einer weiteren Revolution der Produktivität befinden, die auf intelligenten Maschinen und Algorithmen basiert, und womöglich ist die Verlangsamung des Produktivitätswachstums lediglich die Ruhe vor dem Sturm. Der Einsatz von künstlicher Intelligenz im Internet könnte sich als wichtigster Produktivitätsmotor erweisen, den die moderne Welt je gesehen hat. Dies hängt natürlich davon ab, wie intelligent die künstliche Intelligenz ist – in anderen Worten: vom IQ der KI. Der Fortschritt der Software und KI lässt sich objektiv nur schwer messen. Doch es gibt Grund zu Optimismus. Eine von Oxford University Press veröffentliche Befragung von KI-Experten aus dem Jahr 2017 zeigte, dass zwei Drittel der Befragten der Auffassung sind, dass sich der Fortschritt der künstlichen Intelligenz in der zweiten Hälfte ihrer Laufbahn beschleunigt hat. Die Befragung ergab eine geschätzte Wahrscheinlichkeit von 50 %, dass KI bis 2060 alle menschlichen Arbeiten verrichten könnte (laut den Befragten in Asien bereits 2045).10